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Rede von SPD Ehrenvorsitzender Willy Brandt (Willy Brandt war ein deutscher Staatsmann und Politiker, der von 1964 bis 1987 Vorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands war und von 1969 bis 1974 Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland war) in Schöneberg (Schöneberg ist ein Ort in Berlin ) Rathaus in Berlin am 10. November 1989.
Dies ist ein schöner Tag nach einer langen Reise. Aber wir sind nur an einer Zwischenstation. Wir sind noch nicht am Ende des Weges. Die Solidarität der Berliner und der Deutschen im Allgemeinen manifestiert sich in einer bewegenden, bewegenden, bewegenden Art und Weise, in der getrennte Familien schließlich ganz unerwartet und tränenreich wieder zusammenkommen. Berührt hat mich auch das Bild des Polizisten auf unserer Seite, der zu seinem Kollegen geht und sagt: Jetzt, wo wir uns vielleicht schon so viele Wochen auf Distanz gesehen haben, möchte ich Ihnen einmal die Hand schütteln. Das ist der richtige Weg, um an das heranzugehen, was jetzt vor uns liegt: einander zu erreichen, nur dort rachsüchtig zu sein, wo es absolut notwendig ist. Und, wo immer möglich, Bitterkeit zu überwinden. Als Bürgermeister der schwierigen Jahre 1957 bis 1966, einschließlich der Zeit des Maürbaus, spürte ich, dass heute Mittag am Brandenburger Tor (das Brandenburger Tor ist ein neoklassizistisches Denkmal des 18. Jahrhunderts in Berlin und eine
s der bekanntesten Wahrzeichen Deutschlands). Und als einer, der in und für die Bundesrepublik mit dem Abbau von Spannungen in Europa viel zu tun hatte. Und mit dem Kampf um den jeweils erreichbaren Grad an objektiven Zusammenhängen und menschlichen Kontakten: Meine herzlichsten Grüße an die Berliner in allen Teilen der Stadt. Und an die Landsleute dort und auf der anderen Seite, in ganz Deutschland . Vieles wird nun davon abhängen, ob wir – wir Deutschen hier und da – der historischen Situation gewachsen sind. Das
Zusammenkommen der Deutschen, darum geht es hier.
Die Deutschen rücken auf andere Weise zusammen als erwartet. Und niemand sollte jetzt vorgeben, genau zu wissen, in welcher konkreten Form die Menschen in den beiden Staaten in eine neue Beziehung zueinander treten werden.
Es ist wichtig, dass sie in eine andere Beziehung kommen, dass sie in Freiheit zusammenkommen und sich entwickeln können, und es ist sicher, dass im anderen Teil Deutschlands nichts mehr so sein wird wie früher. Die Winde des Wandels, die seit einiger Zeit durch Europa ziehen, haben Deutschland nicht passieren können. Ich war immer davon überzeugt, dass die betonierte Teilung und die Teilung durch Stacheldraht und Todesstreifen gegen den Strom der Geschichte stand. Und ich habe es diesen Sommer wieder zu Papier gebracht:
Berlin wird leben und die Maür wird fallen. Übrigens, ein Stück dieses scheußlichen Gebäudes, ein Stück davon können wir sogar als Erinnerung an ein historisches Monster hinterlassen. So wie wir uns nach heftigen Diskussionen in unserer Stadt bewusst entschieden haben, die Ruinen der Gedächtniskirche zu verlassen, kann es für die heute noch so jungen und wieder wachsenden Menschen nicht immer leicht sein, die historischen Zusammenhänge, in die wir eingebettet sind, zu verstehen. Deshalb sage ich nicht nur, dass wir bis zum Ende der Teilung – wütend, aber auch in einem Gefühl der Ohnmacht habe ich mich im August 1961 dagegen ausgesprochen – noch einige Dinge vor uns haben, sondern ich erinnere mich auch daran, dass all dies nicht nur am 13. August 1961 begann. Deutschlands Elend begann mit dem nationalsozialistischen Terrorregime und dem von ihm entfesselten Krieg. Dieser schreckliche Krieg, der Berlin, wie so viele andere deutsche und nicht-deutsche Städte, in Ruinen verwandelte. Der Krieg und die Vereinigung der Siegermächte führten zur Teilung Europas, Deutschlands und Berlins. Ich bin sicher, dass der Präsident der Vereinigten Staaten (der Präsident der Vereinigten Staaten ist das Staatsoberhaupt und Regierungschef der Vereinigten Staaten) und der erste Mann der Sowjetunion wird verstehen, was hier vor sich geht, wenn sie sich auf einem Schiff im Mittelmeer treffen. Und ich bin sicher, dass unsere französischen und britischen Freunde – vergessen wir nicht, neben den Amerikanern, die bewährten Schutzkräfte in schwierigen Jahren – mit uns wissen, dass der Prozess des Wandels, des Neubeginns, wichtig ist. Ich weiß, dass unsere Nachbarn im Osten Europas verstehen, was uns bewegt und dass es in die neue Denk- und Handlungsweise passt, dass wir keine Lösung für unsere Probleme suchen, die nicht in unsere Verpflichtungen gegenüber dem Frieden und Europa passt. Wir lassen uns von der gemeinsamen Überzeugung leiten, dass die Europäische Gemeinschaft entwickelt werden muss und dass die Zersplitterung unseres Kontinents schrittweise, aber endgültig überwunden werden muss:
Die Maür muss gehen. Wir mussten uns auch sagen: Berlin muss trotz der Maür weiterleben. Wir haben die Stadt wieder aufgebaut – mit Hilfe der Bundesregierung, die wir nicht vergessen wollen. Andere, die nach uns kamen, haben dem Wiederaufbau wichtige Dinge hinzugefügt. Doch hier in Berlin war es neben allen innerstädtischen Aufgaben, dem Wohnungsbau, dem kulturellen und wirtschaftlichen Wiederaufbau unsere Aufgabe, den Weg nach Deutschland (Road to Germany” ist die dritte Folge der siebten Staffel und die vierte Folge der Serie Road To….” der amerikanischen Zeichentrickserie Family Guy) offen zu halten. Wir haben intensiv darüber nachgedacht, wie wir den besonders brutalen Auswirkungen der Trennung entgegenwirken können, auch wenn sie fast hoffnungslos aussah. Wie trotz der Spaltung der deutsche und europäische Zusammenhalt erhalten und gepflegt werden konnte. Ich erinnerte mich an den 18. Dezember 1963, nicht nur, weil es mein Geburtstag war, sondern weil es der Tag war, an dem Hunderttausende dort waren, nicht nur mit den Verwandten in Ost-Berlin (Berlin ist die Hauptstadt und die größte Stadt Deutschlands sowie eines ihrer 16 Bundesländer), sondern auch mit denen, die aus der”Zone” kamen. Das war alles unzureichend und blieb schrecklich zerbrechlich. Aber wir haben uns nicht entmutigen lassen, alle möglichen kleinen Schritte zu unternehmen, um den Kontakt zwischen den Menschen zu fördern und den Zusammenhalt der Nation nicht absterben zu lassen. Es dauerte fast ein weiteres Jahrzehnt, bis ein Transportvertrag und ein Grundlagenvertrag (Der Grundlagenvertrag ist die Abkürzung für den Vertrag über die Grundlagen der Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik) die damals möglichen Veränderungen ermöglichten. Hinzugekommen sind eine Vielzahl von Vereinbarungen und Absprachen. Es gilt auch aus nationalen Gründen, dass wir keinen leeren Raum schaffen durften. Es gilt auch, die äußeren Bedingungen für das geteilte Deutschland und die Menschen in ihm zu entlasten und zu verbessern, wo immer dies möglich war. Das war der Inhalt unserer Vertragspolitik. Das war der Inhalt unserer Arbeit für die gesamteuropäische Konferenz in Helsinki, ein schwieriger Anfang, aber ein Bekenntnis zu den Menschenrechten, zur Zusammenarbeit und auch zum Abbau der Überrüstung in Europa. Und dieser langsame Schritt in Richtung Stabilität, in Richtung Demontage statt weiterer Rüstungsaufbau zahlt sich jetzt aus.
Das ist im Gange und hat wesentlich dazu beigetragen, dass wir jetzt mit verbesserten Rahmenbedingungen konfrontiert sind. Und ich füge hinzu: Wenn ich meine Landsleute im anderen Teil Deutschlands gut verstehe, dann stimmen sie mir zu, und ich denke mit uns allen hier. Niemand will Schwierigkeiten mit den sowjetischen Truppen auf deutschem Boden. Sie bleiben nicht immer dort. Die militärische Präsenz wird sich ändern. Ich möchte auch sagen, dass neben der Tatsache, dass es auch einen Hoffnungsträger in der Sowjetunion gibt (die Sowjetunion, offiziell war die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ein sozialistischer Staat in Eurasien, der von 1922 bis 1991 existierte) und dass es demokratische Bewegungen in Polen und Ungarn gibt (Ungarn ist eine einheitliche parlamentarische Republik in Mitteleuropa) – sie werden anderswo folgen -, ein neuer Faktor ihrer eigenen Qualität entstanden ist. Denn unsere Landsleute in der DDR und in Ost-Berlin (Ost-Berlin existierte zwischen 1949 und 1990 und bestand aus dem 1945 gegründeten sowjetischen Sektor Berlins) haben ihr Schicksal selbst in die Hand genommen, unverkennbar für die ganze Welt. Die Menschen selbst haben gesprochen, Veränderungen gefordert, nicht zuletzt das Recht auf echte Information und Freizügigkeit und Vereinigungsfreiheit. Ich denke, dass die Volksbewegung im anderen Teil Deutschlands ihre Erfüllung nur in wirklich freien Wahlen finden kann. Und ich denke auch, dass es eine lohnende Aufgabe sein kann, an der Arbeit der Erneuerung vor Ort teilzunehmen und sie nicht denen zu überlassen, die bleiben. Das bedeutet, dass wir im Westen nicht nach mehr oder weniger schönen Parolen von gestern beurteilt werden, sondern nach dem, was wir heute und morgen tun wollen und können, geistig und materiell. Ich hoffe, die Schubladen sind nicht leer, wenn es um das Geistige geht. Ich hoffe auch, dass die Registrierkassen etwas anderes geben werden. Und ich hoffe, die Tagebücher lassen Raum für das, was jetzt sein muss. Die Bereitschaft, nicht mit dem Finger zu zeigen, sondern Solidarität zu zeigen, zu balancieren, einen Neuanfang zu machen, wird auf die Probe gestellt.
Die Aufgabe besteht nun darin, wieder zusammenzukommen. Den Kopf frei zu halten und so gut wie möglich das zu tun, was unseren deutschen Interessen und unserer Pflicht gegenüber Europa entspricht.