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Gedichtauslegung
Zafer Senocak (1985)
Als ich das unbetitelte Gedicht von Zafer Senocak lese, fällt mir zunächst ein, dass dieser Mann zwischen zwei Planeten steht, wie er so schön sagt. Diese Person ist hin- und hergerissen zwischen zwei Welten, zwei Kulturen, zwei Ländern, zwei Sprachen, zwei Lebensweisen, zwei Identitäten. Er weiß nicht mehr genau, wofür er stehen oder gestehen soll. Zu seinen Wurzeln oder seiner zweiten Heimat Deutschland . Der erste Vers lässt mich deutlich sehen, wie sehr diese Person für ihre Selbstfindung kämpft. Er kann nicht vor dem einen gestehen und den anderen einfach vergessen. Beide Kulturen leben in ihm. Sowohl seine einheimische türkische Kultur als auch seine deutsche Kultur, die im täglichen Leben gelebt wird. Beide Planeten ziehen ihn an, da zeigt sich, wie viel er mit seiner Unentschlossenheit im Inneren zu kämpfen hat. Eine Kampfkultur gegen Kultur, Land gegen Land, Sprache gegen Sprache, Lebensweise gegen Lebensweise, Deutsch gegen türkische Identität.
Er trägt zwei Welten in sich. Zwei Welten mit unterschiedlichen Bräuchen, Traditionen, Kulturen, Religionen, Sprachen, Weisheiten, Feiertagen, Menschen. Die Tatsache, dass diese Welten ständig bluten, zeigt auch die Gewalt, mit der diese Welten kollidieren. Sie werden nicht eins mit einander, sondern sie nähern sich einander, was bedeutet, dass Senocak keine endgültige Ent
scheidung darüber treffen will, wie er leben will und wofür er leben will. Die Grenze verläuft direkt durch seine Zunge. Das beweist auch, dass er nicht vor einer Sprache gestehen will, weil so viele Dinge auf so viele verschiedene Arten ausgedrückt werden können. Vielleicht erscheint die türkische Version logischer und eloquenter, als die gleichen Zeilen auf Deutsch vor sich zu haben und sie dann auf eine ganz andere Weise zu übersetzen, als erhofft und beabsichtigt.
Beide Sprachen haben ihre eigenen Ausdrücke, Stärken und Schwächen, deshalb sollte er beide Sprachen behalten, damit er sich eloquenter und genauer ausdrücken kann. Er schüttelt diesen Gedanken wie ein Gefangener, der aus seiner Gefangenschaft fliehen will, es aber einfach nicht tun kann, weil er nicht stark genug ist, um die Gitterstäbe zu sprengen und sich zu befreien. Er ist in einem Käfig voller Fragen, Widersprüche und Ängste gefangen. Er weiß nicht, wie er sich entscheiden soll. Ist er jetzt eine deutsche Kultur, an die er sich angepasst hat, oder ist er seinen türkischen Wurzeln treu geblieben? Es ist wie das Spiel mit einer Wunde, schmerzhaft und reißend. Aber Wunden heilen und vielleicht wird Senocak irgendwann eine Lösung für seine Frage finden, wenn seine beiden Welten geheilt und zusammengewachsen sind.